Avenidas und der Pyrrhussieg des Feminismus
Trigger-Warnung: Hier schreibt ein alter, weißer Mann. Aber nicht wütend, sondern ratlos. Die eigentlich maskulinistisch-polemisch gestellte Frage, “was darf Mann eigentlich noch”, erscheint mir inzwischen erschreckend ernst und real. Die Debatte um Sexismus ist so wichtig. Deshalb ist es tragisch, dass sie so unverständlich geführt wird.
Studierende einer Berliner Hochschule wollen das Gedicht “Avenidas” von Eugen Gomringer entfernen. Weil dieses Gedicht patriarchale Kunsttradition fortschreibe und es an sexuelle Belästigung erinnere. Die sexuelle Belästigung wird aus dem letzten Element “ein Bewunderer” (un admirador) abgeleitet.
Als Mann – mein Fehler – kann ich die Vorwürfe nicht nachvollziehen. Respektieren kann ich, das einige Studierende das Gedicht als Sexismus empfinden. Zumal die Studierenden argumentieren, dass die Gegend in der das Gedicht an die Wand geschrieben steht, ein sehr männlich dominierter Ort sei, an denen Frauen sich nicht immer wohl fühlen könnten.
Inhalt
- 1 Avenidas und der Pyrrhussieg des Feminismus
- 2 Wer möchte nicht bewundert werden?
- 3 Wollen wir die Welt verbessern oder wollen wir sie nur besser wahrnehmen?
- 4 Wie man mit guten Absichten das Gegenteil erreicht
- 5 Der Streit beginnt, wenn Kommunikation scheitert
- 6 Darf die Hochschule das Gedicht entfernen?
- 7 Ist die Entfernung des Gedichtes Zensur, der Beginn der nächsten Bücherverbrennung?
- 8 Rhetorik und Polemik verhindern eine Auseinandersetzung über Sexismus
- 9 Die Sexismus-Debatte verkommt zu einem Ritual mit vorhersagbarem Ergebnis
- 10 Quellen und weiterführende Links
Wer möchte nicht bewundert werden?
Bewundern ist etwas anderes als Begaffen, Bestaunen, Beglotzen, Spannen… Letzteres hatten die Studierenden bei ihrer Kritik wohl im Sinn. Bewundern aber bedeutet, das die/der Bewundernde die/den Bewunderte/n zumindest ein klein wenig über sich selbst erhöht. Bewundern degradiert nicht und es objektifiziert nicht – im Gegenteil.
Wollen wir die Welt verbessern oder wollen wir sie nur besser wahrnehmen?
Alleen
Alleen und Blumen
Blumen
Blumen und Frauen
Alleen
Alleen und Frauen
Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer
Das Original ist auf Spanisch und steht auf der Wand der Alice-Salomon-Hochschule, ein Schlüsseltext der Konkreten Poesie. Der Autor Eugen Gomringer gewann 2011 den Poetik-Preis der Alice-Salomon-Hochschule. Ihm zu Ehren wurde das Gedicht damals an der Wand angebracht. Ausgewählt hat das Gedicht die damalige Leiterin der Schule.
Wenn das Gedicht verschwunden ist, werden die U-Bahn-Station Hellersdorf und der Alice-Salomon-Platz immer noch “sehr männlich dominiert” sein. Das reale Bedrohungsgefühl bleibt an diesem Ort. Würde man nicht mehr gewinnen, wenn man versucht, diesen Ort zu einem besseren zu machen? Was hat man mit der Tilgung des Gedichtes gewonnen? Wurde hier ein Problem gelöst – oder nur durch ein neues ersetzt?
Wie man mit guten Absichten das Gegenteil erreicht
Richtig ist: Wir sind noch sehr weit von einer wirklichen Gleichberechtigung der Geschlechter entfernt. Der Sexismus hält sich hartnäckig wie Herpes. Ebenso richtig ist also, Muster und Mechanismen des Sexismus zu erkennen um sie zu vermeiden.
Sexismus ist wie Herpes. Den wird Mann so schnell nicht wieder los. Klick um zu TweetenDoch die ebenso richtige wie wichtige Sexismus-Debatte hat inzwischen ein Vermittlungsproblem. Der erbitterte Streit um “Avenidas”, dem Gedicht von Eugen Gomringer an der Wand der Berliner Alice-Salomon-Hochschule, wird von immer weniger Frauen und Männern verstanden. Der gesellschaftliche Diskurs um das Geschlechter-Verhältnis droht nicht mehr als wichtig, sondern als grotesk wahrgenommen zu werden.
Der Streit um das Gedicht Avenidas bringt das Kommunikationsproblem der Sexismusdebatte auf den Punkt. Die Adressaten können die Kritik nicht mehr nachvollziehen. Gelingende Kommunikation ist aber die Grundvoraussetzung, wenn sich irgendetwas ändern soll.
Der Streit beginnt, wenn Kommunikation scheitert
Im vergangenen Jahr beschwerte sich der Asta der Hochschule:
“Ein Mann, der auf die Straßen schaut und Blumen und Frauen bewundert. Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren. Es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind.”
Die Studierendenvertreter fordern, das Gedicht, das im Jahr 1951 geschaffen wurde, zu übermalen.
Darf die Hochschule das Gedicht entfernen?
Natürlich darf sie das. Strittig ist die Begründung, warum sie das Gedicht entfernt. Das wird in der Diskussion gerne verwechselt. Zwar war sprach man 2011 von einer “bleibenden Erinnerung”, aber man hätte sich auch dafür entscheiden können, die Wand jedes Jahr neu den jeweiligen Preisträgerinnen und Preisträgern zu widmen. Solange es ein Budget dafür gibt, kann die Hochschule autonom über die Gestaltung ihrer Fassaden bestimmen. Sie hat dies jetzt in einem demokratischen Prozess getan.
Ist die Entfernung des Gedichtes Zensur, der Beginn der nächsten Bücherverbrennung?
Schwierig. Einerseits werden ja weder das Gedicht noch der Autor und seine Werke verboten. Andererseits wird der Kunst das Recht genommen, auch unbequem und deplaziert zu sein. Wenn Kunst nur noch dann öffentlich sein darf, wenn sie allgemein genehm ist, dann hat die Trivialisierung der Kunst begonnen.
Wenn ich bedenke, wie sehr sich eine breite Öffentlichkeit für die Kunstfreiheit des Schmähgedichtes von Jan Böhmermann eingesetzt hat (ausgenommen natürlich Erdogan-Anhänger), dann zelebrieren wir hier gerade das Gegenteil.
Rhetorik und Polemik verhindern eine Auseinandersetzung über Sexismus
Die eine Seite mit ihrem empfindlichen Sensorium attestiert dem Gedicht Sexismus und erwartet dafür Verständnis. Sie muss dann aber auch die gleiche Sensibilität aufbringen, wenn die Gegenseite das als Eingriff in die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, als Zensur empfindet. Nötig gewesen wäre ein Dialog, in dem beide Seiten ihre Standpunkte gegenseitig vermitteln und gemeinsam einen Weg finden.
Die Sexismus-Debatte verkommt zu einem Ritual mit vorhersagbarem Ergebnis
Keiner der beiden Seiten ist es gelungen, der jeweils anderen ihre Wahrnehmung und ihren Standpunkt zu vermitteln. Stattdessen stehen sich verhärtete Fronten gegenüber. Es wird einander auch kaum noch zugehört. Stattdessen wird sich gegenseitig mit negativen Zuschreibungen eingedeckt. Die Art und Anzahl der Adjektive spricht Bände.
Wenn sich jetzt ausgerechnet Rechte und Konservative als Hüter der Freiheit aufspielen, dann ist in der Sexismusdebatte etwas schiefgelaufen #Gomringer #Avenidas Klick um zu TweetenDas ist schade, denn ein wirklicher Diskurs wurde so nicht entwickelt und den wird es auch nicht mehr geben. Das ist schade, denn ohne Diskurs gibt es auch keine Entwicklung.
Quellen und weiterführende Links
- Pressemitteilung der Alice-Salomon-Hochschule anlässlich der Veröffentlichung des Gedichts auf der Fassade 2011
- Stellungnahme der Alice-Salomon-Hochschule
- Pressespiegel der Alice-Salomon-Hochschule zur Diskussion
- “Kulturbarbarei” – Pressemitteilung der Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters
- Textanalyse auf Twitter von Martin Lindner, Literaturwissenschaftler und Autor
- Interview mit Eugen Gomringer zur Diskussion über sein Gedicht
- Interview mit dem Hochschulrektor Uwe Bettig über das Gedicht und die Folgen
- Der Automatismus in der Sexismus-Debatte – Heute: Ein Gedicht ist ein Gedicht?
- Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“ an der Hauswand – so ging es weiter
- Nora Gomringer über Gedicht und Interpretation
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