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20. November 2024

Minderheitsregierung? Willkommen in der Demokratie!

GroKo & Neuwahlen - Totengräber der Demokratie

Deutscher Bundestag Berlin, Reichstagsgebäude
Mehr Demokratie bitte!

Von der Pflicht zur Kür: Eine Minderheitsregierung ist Demokratie auf höherem Niveau, Demokratie 2.0 sozusagen. In der derzeitigen Verfassung unserer Republik wäre eine Minderheitsregierung die dringend benötigte Frischzellenkur für unsere Demokratie.

Tatsächlich muss sich eine Minderheitsregierung für jedes ihrer Vorhaben um eine Mehrheit bemühen. Und eine Parlamentsmehrheit wäre in der Lage, eigene Initiativen zu ergreifen. Was zum Teil jetzt schon beginnt1. Im Umkehrschluss bedeutet das doch eigentlich, dass die klassische Regierungskoalition mit eigener Mehrheit demokratische Defizite hat – oder?

Der Widerstand der Macht-Eliten gegen eine Minderheitsregierung

Die Machtverwöhnten kämpfen am erbittertesten gegen eine Modernisierung unserer Regierung. Sie wollen ihre Macht nicht teilen, geschweige denn abgeben. Sie sind Propagandeure eines “Ancien Régime”. Die dümmsten Argumente gegen eine Minderheitsregierung im Schnelldurchlauf:

Die dümmsten Argumente gegen eine Minderheitsregierung auf einen Blick Klick um zu Tweeten

Deutschland hat keine Erfahrung mit einer Minderheitsregierung

Das ist zuerst ein selten dummes Argument. Wollte man dieses “Argument” ernst nehmen, darf und wird es in Deutschland niemals eine Minderheitsregierung geben. Überträgt man diesen Nicht-Gedanken auf andere Lebensbereiche, sieht man sofort, wie grotesk dieses Nicht-Argument ist. Alles ist irgendwann zum ersten Mal passiert.

Zweitens stimmt die Behauptung nicht. In etlichen Bundesländern gab es bereits Minderheitsregierungen. Und oft wird von diesen Zeiten als Sternstunden der Parlamente geschwärmt. Formal gesehen gab es auch schon im Bund für kurze (Übergangs-) Zeiten Minderheitsregierungen 2.

Drittens haben wir faktisch beinahe ständig eine Regierung in der Minderheit: Wann immer sich die Mehrheitsverhältnisse von Bundestag und Bundesrat unterscheiden. Und das ist beinahe schon der Normalzustand.

Minderheitsregierungen sind nicht stabil und führen zu Unsicherheit

Etliche Studien zeigen, dass in parlamentarischen Demokratien etwa ein Drittel der Regierungen Minderheitsregierungen sind 3. In Kanada sind sie nicht ungewöhnlich, in Skandinavien sind sie schon fast Tradition und in Frankreich sind sie als Cohabitation bekannt. Alles instabile, unsichere Staaten?

Eine Minderheitsregierung wird teuer

Diese Behauptung geht davon aus, dass Mehrheiten “gekauft” werden müssen: Damit die Regierung ein Gesetz verabschieden kann, müsse sie als “Gegengeschäft” ein Gesetzesvorhaben der Partei unterstützen, deren Stimmen sie für ihr eigenes braucht.

Diese Variante ist theoretisch vorhanden, in der politischen Praxis werden sachfremde Deals aber eher selten gemacht. Im Gegenteil: Mit solche teuren politischen Tauschgeschäfte werden in Koalitionsverhandlungen “stabile” Regierungen “erkauft”.

Die Angst der Macht-Eliten vor der Minderheitsregierung

Angst vor einer Minderheitsregierung sind Zeichen von Schwäche und Zweifel an der eigenen Politik. Klick um zu Tweeten

Wovor Kauder und Konsorten sich wirklich fürchten: Für jedes Gesetzesvorhaben müssten sie um echte Mehrheiten kämpfen und überzeugen. Und das zeigt im Umkehrschluss die (un-) demokratische Realität bisheriger Regierungen: Ist eine Koalition erstmal ausgehandelt, wird mehr oder weniger durchregiert. Die Koalition stimmt als geschlossener Block, die Abgeordneten werden via “Fraktionsdisziplin” zu den Gesetzesvorlagen der Regierung verpflichtet. Das mag effektiv sein, aber das ist als Demokratie eigentlich nur zweite Wahl.

Wie komplett anders Diskussionen und Abstimmungen verlaufen sieht man immer dann, wenn die Fraktionsdisziplin aufgehoben wird. Stichwort: Hauptstadtbeschluss, Präimplantationsdiagnostik, Ehe für Alle… Und waren das nicht alles historische Entscheidungen und Sternstunden von Parlament und Demokratie?

Alarmismus in den Medien als Dauerzustand

So so, wir haben jetzt also eine Regierungskrise. Wollen uns die Medien weismachen, weil die mehrwöchigen Berliner Balkonfestspiele, auch als Jamaika-Sondierung bekannt, gescheitert sind.

Die Berliner Balkonfestspiele aka Jamaika-Sondierung sind gescheitert, weil herkömmliche Koalitionen in der Sackgasse stecken. Klick um zu Tweeten

Nein, wir haben keine Regierungskrise. Wir haben eine Regierung, wenn auch (nur) geschäftsführend. Lediglich die Regierungsbildung fällt nach der Bundestagswahl etwas schwieriger und langwieriger aus. Die Regierungsbildung 2013 dauerte 86 Tage4. Wir haben also noch Zeit. Und hat man damals von Krise gesprochen? Nein!

Für stabile Verhältnisse brauchen wir keine GroKo

Ein mögliche Koalition zwischen CDU/CSU und der SPD wäre sowieso keine “GroKo” bei  der aktuellen Sitzverteilung im Parlament, sondern eine stinknormale Koalition.

Wer #GroKo will, der will Stillstand und zurück zum 'Ancien Régime' Klick um zu Tweeten

Angesichts der Konflikte die gerade zwischen SPD und CDU/CSU aufbrechen – Glyphosat! – wäre die neue alte Koalition aber auch alles andere als stabil. Zweitens würde die Schwäche der SPD, ihre Profillosigkeit und ihre noch immer unbewältigte asoziale Vergangenheit (Hartz IV!) eine gewaltige Unwucht in die Koalition einbringen. Zudem stehen alle drei Partner vor gewaltigen Veränderungen bei ihrem Spitzenpersonal, niemand hat die Nachfolge geregelt. Das wird noch für große Verwerfungen sorgen.

Nichts wird instabiler als eine #GroKo: Parteien im Sinkflug mit Spitzenpersonal auf Abruf! Klick um zu Tweeten

Übrigens: Was hat die GroKo 2013-2017 überhaupt aus ihren Möglichkeiten gemacht? Wie hat sie die Chancen ihrer erdrückenden Mehrheit genutzt? Rausgekommen ist doch eigentlich nur Mittelmaß. Zum Glück möchte ich sagen. Die so genannten “stabilen Verhältnisse” bedeuten übersetzt Stillstand.

Ist Steinmeier der letzte Demokrat?

Parteien bekommen durch Wahlen den Auftrag, Politik für die Menschen und das Land zu machen. Die Zahl ihrer Mandate ist das Werkzeug, dass der Wähler ihnen für diesen Auftrag gibt. Damit müssen sie arbeiten. Alles andere ist Arbeitsverweigerung. Wenn Politiker jetzt Neuwahlen fordern, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass sie ihr Mandat nur unter der Voraussetzung annehmen wollen, wenn sie als Mehrheit entscheiden können wie sie wollen. Das ist ein erschreckendes Demokratieverständnis.

Wer den Wählerauftrag jetzt zurück gibt und Neuwahlen fordert, zeigt damit, dass er nicht regieren kann oder will Klick um zu Tweeten

Übrigens: Die Bürgerinnen und Bürger wählen Parteien, Programme, Politiker – keine Koalitionen. Dass Wähler bestimmte Koalitionen wollen oder auch nicht, sind spekulative Interpretationen im Interesse möglicher Profiteure.

Wer das bestreitet: Man vergleiche die Zustimmung für eine Jamaika-Koalition bei Umfragen vor der Wahl und nachdem die Sondierungsgespräche begonnen hatten.

Kurz vor der Wahl, am 15.09.2017 vermeldet das ZDF Politbarometer: Eine Jamaika-Koalition finden 25% der Befragten gut, 52% schlecht. 5

Grafik ZDF Politbarometer, Ablehnung Jamika vor der Bundestagswahl 2017
Vor der Wahl unbeliebt: Jamaika

Beim ZDF Politbarometer vom 27.10.2017 hat sich die Meinung komplett gedreht: Jetzt finden 57% der Befragten eine Jamaika-Koalition gut und nur noch 25% finden sie schlecht. 81% glauben sogar, dass es zu einer Jamaika-Koalition kommen wird. 6

Grafik ZDF Politbarometer Jamaika nach der Wahl
Nach der Wahl willkommen: Jamaika

Das belegt klar: Der Wähler weiß sehr wohl zwischen den Parteien, die er wählt und den Möglichkeiten, die sich aus den Wahlergebnissen ergeben, zu unterscheiden. Die Wähler sind bemerkenswert pragmatisch.

Neuwahlen wären ein Armutszeugnis für den Bundestag

Neuwahlen wären das Eingeständnis gewählter Politiker, dass sie nicht in der Lage sind, nach demokratischen Spielregeln Mehrheit für notwendige Gesetze zu organisieren. Das kommt einer Bankrotterklärung gleich.

Wenn ich diesen Gedanken zu Ende führe, müsste bei Neuwahlen komplett anderes Personal antreten – denn die jetzt gewählten haben ja klar gesagt, dass sie es nicht hinbekommen. Unter dieser Prämisse könnte ich mich mit den Gedanken an Neuwahlen anfreunden.

Neuwahlen machen nur Sinn, wenn die Parteien mit komplett neuem Personal antreten. Denn die jetzt Gewählten packen es offensichtlich nicht. Klick um zu Tweeten

Tatsächlich würden bei Neuwahlen aber im Wesentlichen die gleichen Kandidaten mit etwa den gleichen Programmen antreten. Warum sollten sich so die Mehrheitsverhältnisse derart verändern, dass dann eine “stabile” Mehrheitsregierung möglich wäre? Tatsächlich zeigen die Umfragen, dass im Großen und Ganzen alles beim Alten bliebe. Nicht zuletzt aus diesem Grund entbehren Neuwahl jeder logischen Grundlage.

Mehr Demokratie, mehr Realismus: Minderheitsregierung

Für mich ist eine Minderheitsregierung eine Weiterentwicklung zu mehr Demokratie. Mehr als je zuvor würden Entscheidungen wieder direkt im Bundestag getroffen werden. Endlich würde die grundgesetzwidrige Praxis der “Fraktionsdisziplin” entkräftet werden. Es würde wieder echte Mehrheiten geben. Die Diskussionskultur, nicht nur im Parlament, würde neu belebt. Eine lebendige demokratische Praxis würde endlich der faschistischen Drift entgegenwirken. Minderheitsregierung – noch nie war sie so wertvoll wie heute.

Quellen und weiterführende Links

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Bilder mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Matern, ZDF Politbarometer und ZDF Politbarometer
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